Eine kompetente Person, die sich zu lange bedeckt hält, wird immer als jemand mit einer geheimnisvollen Identität und einem geheimnisvollen Ziel wahrgenommen. Alhaitham selbst widerlegt all diese Klischeevorstellungen: Er ist hervorragend, aber auch nur ein gewöhnlicher Mitarbeiter der Akademie mit einem festen Arbeitsplatz und einem hochwertigen Wohnsitz in Sumeru, was ihm ein bequemes Leben ermöglicht.

Oft grenzt es schon fast an Unmöglichkeit, den amtierenden Archivar der Akademie in seinem Büro anzutreffen. Nur sehr wenig ist über ihn bekannt; lediglich, dass sein Name Alhaitham ist und er zu den Arbeitszeiten eigentlich anwesend sein sollte. Tatsache ist, dass niemand weiß, wohin der Archivar verschwindet. So bleibt einem dann auch nichts anderes übrig, als Informationen und Dokumente einfach auf seinem Schreibtisch zu deponieren.

Alhaitham ist damit eigentlich mehr als zufrieden. Vielleicht ist er ja gerade zu Hause oder in der Bibliothek, jedenfalls niemals dort, wo man ihn anzutreffen erhofft.

Für die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will, ist es absolut unerlässlich, dass niemand vorhersagen kann, was man wann wo tut.

Für viele der gewöhnlichen Studierenden an der Akademie mag der Titel des „Archivars“ beeindruckend klingen, aber tatsächlich ist dem nicht der Fall. Er ist vielmehr ein Produkt der akademischen Leitkultur, wohlklingende Namen zwecks des Wahrens des Gesichts desjenigen, der ihn trägt, zu verleihen.

Weder hat der Archivar an allen wichtigen Sitzungen teilzunehmen, noch ist er an den Entscheidungen über wichtige Angelegenheiten beteiligt. Er archiviert und sichert lediglich wichtige Informationen. In Sumeru jedoch, wo Papierbücher und schriftliche Dokumente einst kontrolliert wurden, gilt der Archivar als eine der kenntnisreichsten Funktionen in der gesamten Akademie, fast schon dem Posten des Großkonservators ebenbürtig. Nicht umsonst heißt es, dass jemandem wie dem Großkonservator, der für die Ordnung der Texte die Verantwortung trägt, der Zugang zu größtem Wissen gewährt ist.

Alhaitham, der derzeit das Amt des Archivars bekleidet, ist perfekt für dieses geeignet: Er nimmt an keiner Sitzung teil, die nicht unbedingt notwendig ist, und wenn er dazu aufgefordert wird, macht er lediglich Notizen zu den wichtigsten Angelegenheiten. Ob etwas anderes protokolliert wird oder nicht, hängt dabei ganz von seiner Stimmung ab. Sollte ihn mal eine Sitzung nicht betreffen oder interessieren, so wird sie auch von ihm keines Kommentars gewürdigt. Und sollte ihn jemand mit einer dummen Bemerkung behelligen, so kann er sich sicher sein, dass Alhaithams Erwiderung wohl gewählt ist und in ihrer Wirkung treffsicher ausfällt.

Und was Alhaithams Art betrifft, die Dinge anzugehen: Sollte die Notwendigkeit bestehen, dass ein Urteil gefordert wird, so bedeutet dies, dass alle Mittel und Rechte zugestanden werden, die für dieses Urteil nötig sind. Oder in seinen Worten: Zum Glück bin ich viel zu faul, um ehrgeizig zu sein.

Gelehrte streben nach Wissen und Wahrheit, manche von ihnen nach Ruhm und Reichtum, andere nach Idealen, wieder andere danach, sich ebendiese untertan zu machen, sie hinter sich zu lassen und sich am Gefühl der Überlegenheit dieses Prozesses zu ergötzen. Alhaitham aber ist keiner von ihnen. Er verfolgt seine Studien rein aus Interesse. Seiner Meinung nach sind viele Gelehrte in ihrem Streben vom Weg abgekommen und betrachten die Wahrheit fälschlicherweise als Werkzeug oder gar als Abkürzung zur Selbstverwirklichung.

Doch ob der Mensch nun nach ihr strebt oder nicht, die Wahrheit ragt immer über allem, gleich einem glorreichen Himmelskörper. Sie ist nicht das Ende einer Reise oder die Ziellinie eines Rennens und sie gerät auch nie ins Wanken, ganz gleich, ob der Mensch nun existiert oder nicht. Darüber hinaus endet die Reise nicht einfach mit dem Erlangen eines bestimmten Wissens und der Wunsch, etwas zu wissen, kann Menschen auch dann noch antreiben, wenn sie glauben, in den Genuss einer Belohnung zu kommen. Hierfür sind sie bereit, alles zu opfern.

Für diejenigen, die die Wahrheit nicht erkennen können, endet der Weg nie. Und diejenigen, die klar sehen, werden sagen: Die Wahrheit wurde nicht geboren, um irgendjemandem zu dienen, und diejenigen, die ihr Verlangen nach Wissen nicht kontrollieren können, wird dieses Wissen eines Tages zugrunde richten. Und genau dies ist die Regel im Reich des Lernens. Wenn es dir aber nach Zutritt zu diesem Reich verlangt, kannst du natürlich auch so tun, als ob.

Für das Volk von Sumeru sind diejenigen, die an der Rettung der Niederen Herrin Kusanali beteiligt waren, Helden. Ein erheblicher Teil dieser Lobpreisenden weiß allerdings nur um das große Ganze, hat lediglich einen Teil gehört und tut es dann als schöne Geschichte ab. Als jemand, der selbst dabei war, misst Alhaitham dem Wort Held nur wenig Bedeutung bei. Für ihn war es nie wirklich eine Geschichte, die es wert wäre, erzählt zu werden.

Darüber hinaus hatte die Akademie ihm wiederholt den Stuhl des Großen Weisen angeboten, doch er hatte abgelehnt. Die Zeiten waren allerdings unruhig und so erklärte sich Alhaitham schließlich bereit, vorerst das Amt des stellvertretenden Weisen zu bekleiden.

Es ist schon schwer zu glauben, dass jemand das Amt des Weisen, ja gar Großen Weisen ablehnt, aber noch schwerer fällt es, dies bei jemandem zu tun, der bereits das Amt eines stellvertretenden Weisen innehatte, dann zu gegebener Zeit zurücktritt und sich dann wieder der weniger angesehenen Tätigkeit des Archivars zuwendet.

Wenn er vor allem etwas aus all dem herausschlagen konnte, dann einen finanziellen Gewinn. Alhaitham mag vielleicht auf den Posten des Archivars zurückgekehrt sein, genießt aber weiterhin die Vergütung eines Weisen, und mit mehreren hochwertigen Forschungsprojekten, die er auf eigene Faust abgeschlossen hat, hat er in Sachen Lebensqualität nichts auszustehen. Und dann wäre da ja noch die zwischenmenschliche Ebene: Nach dem gemeinsamen Durchleben dieses Kampfes betrachten sich Alhaitham und die anderen Mitstreiter als Waffenbrüder, die sich gelegentlich zur Begrüßung zunicken, wenn man sich mal über den Weg läuft.

Hin und wieder lädt ihn auch die Niedere Herrin Kusanali ins Heiligtum von Surasthana ein, um verschiedene Angelegenheiten zu besprechen. Hier traf er auch viele Leute. Mahamatra Cyno, die Söldnerin Dehya und die berühmte Schauspielerin des Theaters Zubayr, Nilou ... einmal fragte diese ihn sogar: „Wie bist du nur auf so einen genialen Plan gekommen? Wenn man so darüber nachdenkt, ist es doch ein großes Glück, dass wir beide nicht verletzt wurden ...“

Nilou zögerte einen Moment. Alhaitham verstand ihre Zweifel; jeder andere hätte sich genauso gewundert, wie er es geschafft hatte, mit heiler Haut aus einer Falle wie der Wissenskonserve der Gottheit zu entkommen. Er selbst allerdings hatte nie das Gefühl, wirklich in Gefahr gewesen zu sein, da er niemals zuvor etwas dergleichen benutzt hatte.

Wenn man sich also fragt, wie Alhaitham so etwas gelungen ist, dann dank der Bequemlichkeit der Arbeit als Archivar. Als Gelehrter, der das Privileg hatte, die Anleitungen zum Akasha-System gelesen zu haben, hatte er die Komponenten des Akasha-Headsets und die Wissenskonserve studiert und wusste, wie man den Anzeigestatus des Akashas ändern kann. So kam er auch auf die Idee, die Projektionsbarriere des Akasha-Kontrollgeräts umzukehren, sodass sie im Bereich des Hinterkopfes erscheint, um so mögliche Angriffe abzuwehren.

Wie sich also herausstellt, ist gute Planung alles und Recherche im Vorfeld ist ihr Fundament. Alhaitham, der natürlich nicht daran interessiert war, herauszuposaunen, dass er unverletzt geblieben war, fragte Nilou einfach im Gegenzug: „Soweit ich weiß, sind Cyno und Dehya auch neugierig darauf, aber nur du hast gefragt. Ist es ihnen etwa peinlich, zu fragen?“

Alhaitham diskutiert nur selten mit anderen über Persönlichkeit oder Veranlagung. Er argumentiert, dass die vorherrschende Ansicht falsch ist und dass man nichts über die zu beurteilende Person sagen kann, wenn man darauf besteht, dass die Persönlichkeit auch in keinem Verhältnis zu Fähigkeiten und Gedanken steht. Die Haltung des Klugen gegenüber dem Toren ist in der Regel eine andere als die gegenüber einem anderen Klugen und die Toren denken anders über Erfolg und Misserfolg. Und auch das, was andere über Alhaitham sagen, bestätigt seine Theorie: Aufgrund seines herausragenden Talents und seiner selbstgefälligen Art zögern die Menschen oft, ihm zu nah zu kommen und sehen in ihm lediglich eine objektiv herausragende Persönlichkeit.

Und genau das ist der Eindruck, den Alhaitham bei anderen erwecken will. Unter den Gelehrten mangelt es jedenfalls nicht an verblendeten Lesern, aber er ist keiner von ihnen. In der Tat ist seine gelegentlich scharfe Rhetorik nur Teil des Ausdrucks Alhaithams Denkens. Die Gesellschaft (oder nennen wir sie einfach: das Kollektiv) neigt dazu, den Einzelnen durch Regeln zu binden, und die Sprache ist einer ihrer Ausläufer. Das Verdrehen von Wörtern und Sätzen in umgekehrter Richtung ist ein Gegenmittel gegen solch irrationale Regeln. Auf diese Weise halten sich die Menschen aus Schwierigkeiten heraus.

Das Wort Genie hallt schon seit Langem durch die Akademie, aber auch Wunderkind oder Sonderling ... In Sumeru zu leben bedeutet, dass Talent von Natur aus eine Prüfung ist. Eine überwältigende Fähigkeit sollte nicht unbedingt als Geschenk angesehen werden. So kann sie Menschen auch entzweien. Gewöhnliche Menschen werfen immer gern mit den theatralischsten Begriffen um sich, wenn sie an anderen etwas Außergewöhnliches feststellen: Genie, Übermensch, anders als der Rest ... Wenn man so darüber nachdenkt, kann man die tiefere Bedeutung in dem erkennen, was selbst dem Sprecher nicht bewusst ist: Genies sind im Grunde eine Gruppe von Menschen, die sich vom gewöhnlichen Rest unterscheidet.

Wenn jemand etwas kann, was andere nicht können, dann muss er besondere Fähigkeiten und Eigenschaften haben. Übertriebenes Lob und die Vorstellung des Besten sind im Grunde genommen eine Form der Entfremdung. Die Ausrede, dass diejenigen, die anders sind als ich, zu Großem fähig sind, ist eine gängige Ausrede für die Gewöhnlichen. Diese törichten Regeln ergaben für Alhaitham keinen Sinn, denn auch wenn er wusste, wie man sich in der Welt zu verhalten hatte, wollte er seine Energie nicht für solch unnötige Dinge aufwenden.

„Regeln“ sind Grenzen und damit auch Fesseln. Die Anzahl der Gefesselten sollte nicht das einzige Kriterium sein, um die Vorzüge einer Regel zu messen; so kam er auch zu seinen eigenen Regeln. Es ist seine Macht, alles zu sehen, sich gegen die Welt zu wehren, der ultimative Ausdruck all seiner Gedanken. Um die ihm eigenen Regeln aufrechtzuerhalten, wird Alhaitham nach seinem eigenen Willen handeln und sich dessen entledigen, was ihm schädlich erscheint.

Nur wer objektiv ist, kann die Wahrheit erkennen. Anerkennen, dass jeder Mensch anders ist, und die Kluft zwischen Fähigkeiten und Verstand erkennen. Die Antwort liegt direkt vor unseren Augen: Die Profilierung durch die anderen ist lediglich eine Verzierung, und wenn man die Beurteilung in die Hände anderer legt, verleugnet man sich letztendlich selbst. Anders zu sein sollte kein Etikett sein, das von anderen kommt, und Genies sollten schon längst begriffen haben, dass das Besondere auch ein Vorteil sein kann.

Oder um es anders auszudrücken: Ein Genie erkennt den Wert seines Talents erst dann richtig, wenn es aus tiefstem Herzen begreift, dass es tatsächlich anders ist, und zwar eben ein Genie, durch und durch. Diejenigen hingegen, die davor zurückschrecken und sich von der Meinung der breiten Masse lähmen lassen, haben sich selbst noch nicht ganz gefunden.

Für ein ruhiges und angenehmes Leben sind einige Voraussetzungen zu erfüllen: eine starke Persönlichkeit, logisches Denken, die nötigen Fähigkeiten zum Kampf, ein entspannter Beruf und ein Zuhause in der Nähe des Büros, in dem es sich gut leben lässt.

Die oben genannten Punkte hat Alhaitham schon vor langer Zeit erfüllt. Niemals würde er abstreiten, dass er würdig sei, im Land der Gelehrten zu leben, wo akademische Fähigkeiten in Einklang mit sozialen Ressourcen stehen.

Das Zuhause, in dem Alhaitham heute lebt, liegt in der Nähe der Akademie und ist eine der akademischen Ressourcen, die er durch seine herausragenden Leistungen erworben hat. Wenn man über dieses Zuhause spricht, kommt man nicht umhin, die Projekte zu erwähnen, an denen er als Student beteiligt war. Die Kommilitonen, denen er im Gedächtnis geblieben ist, wissen, dass Alhaitham niemand ist, der sich gerne an Gruppenaktivitäten beteiligte. Das einzige Mal, dass er an einem Forschungsprojekt mitgearbeitet hat, auch wenn es ein unglaublicher Erfolg war, mündete in einem heftigen Streit und getrennten Wegen. Viel ist nicht über Alhaithams Rolle in diesem Stück bekannt, aber man mag vielleicht von seinem Partner gehört haben, mit dem er sich überworfen hat: Kaveh, ein Architekt der Baulehre.

Dieser akademische Zwischenfall fand nie seinen Weg an die Öffentlichkeit; schließlich ist es an einem Ort wie der Akademie nicht ungewöhnlich, dass zwei Genies ihre Partnerschaft aufgrund persönlicher Differenzen nicht weiterführen können. Auch wenn man im Streit auseinandergegangen ist, so hätte doch keiner der beiden jemals den brillanten Geist des anderen zu leugnen gewagt. Das in diesem Jahr auf Eis gelegte Forschungsprojekt wurde später dann im Einklang mit den einschlägigen Vorschriften wieder auf die Namen der involvierten Forschenden zurückgeführt.

Keiner der beiden hat sich nach der Trennung sehr um das Projekt bemüht, aber es war in der Anfangsphase ein solcher Erfolg und ein ebenso starkes Zeugnis Alhaithams akademischer Fähigkeiten, dass die Akademie bei der späteren Bewertung der Zuteilung von Eigentumsressourcen dieses in Vergessenheit geratene Projekt berücksichtigte und Alhaitham, wie auch seinem Projekt, eine äußerst beeindruckende Unterkunft zuteilte. Was seinen Mitstreiter betrifft, so suchte Kaveh ihn zunächst nicht auf, um die Eigentumsverhältnisse zu klären. Alhaitham erfuhr erst sehr viel später, dass Kaveh den Sachbearbeiter gebeten hatte, der Akademie und ihm mitzuteilen, dass er bereits eine Wohnung besitze und das Grundstück nicht brauche.

Lange blieb es still zwischen den beiden, und als sie sich dann wiedersahen, war Kaveh pleite. Alhaitham schätzte seinen ehemaligen Freund so ein, dass dessen Ideen und Persönlichkeit nicht seinen Fähigkeiten entsprächen. Ihre Ansichten über zu vieles standen im Widerspruch zueinander und bis heute war es ihnen nicht möglich, einen gemeinsamen Konsens zu finden.

Dass er letztendlich Kaveh vorübergehend bei sich aufnahm, sorgte dann schon für Gesprächsstoff: Jemand, der bekanntermaßen einen Teil eines Vermögens besaß und diesen freiwillig aufgegeben hat, wäre zwar rechtlich und sozial dazu verpflichtet, für seinen Aufenthalt Miete zu zahlen, aber aus akademischer Sicht wäre die Zahlung von Miete mehr oder weniger eine Verleugnung all seiner Forschungsanstrengungen gewesen und hätte dem Geist der Wissenschaft widersprochen.

Auch wenn dieses Gedankenexperiment durchaus reizvoll war, so interessierte sich Alhaitham nicht dafür, wie das Ergebnis hätte ausfallen können. Stattdessen nahm er seinen bankrotten ehemaligen Kollegen bei sich auf, kassierte wie selbstverständlich die Miete und überließ ihm einen Teil der täglich anfallenden Aufgaben. Es war ihm natürlich klar, dass Kaveh sich beschweren würde, aber das war schon in Ordnung. Für Alhaitham war der Kontakt mit einem Gelehrten, der ebenfalls keine Familie hatte, und als Akademiker das komplette Gegenteil seiner selbst darstellte, so, als würde er die andere Seite eines Spiegels betrachten. Die menschliche Wahrnehmung hat ihre blinden Flecken, die nie in ihrer Gänze zu ergründen sind; aber durch ein anderes Genie konnte er sie sichtbar machen. Auf diese Weise war es ihm möglich, andere Seiten der Welt zu sehen und mehr Dinge zu verstehen, die er sonst niemals durchschaut hätte.

In Sumeru, dem Reich der Gelehrten, stehen Gelehrsamkeit und Wissen an erster Stelle; oder in anderen Worten: Gelehrte, die eine gewisse Anerkennung durch die Akademie in Sumeru erlangt haben, genießen in der Regel einen höheren sozialen Status. Alhaitham wurde in eine solche Gelehrtenfamilie hineingeboren, doch seine Eltern starben schon in jungen Jahren bei einem Unfall, und so zog ihn seine Großmutter auf, eine Frau der Baulehre.

Alhaitham hat nicht viele Erinnerungen an seine Eltern, aber später erfuhr er von seiner Großmutter, dass sie beide in der Akademie gedient hatten, sein Vater als Mentor der Redelehre, seine Mutter eine Gelehrte der Ursachenlehre.

Alhaitham hatte seinen ausgezeichneten Verstand von seinen Eltern geerbt. Er war von klein auf äußerst intelligent und las bereits im Alter von sieben oder acht Jahren akademische Bücher und Zeitschriften, die seine Altersgenossen nicht anzurühren wagten. Seine Großmutter befand ihn für hoch qualifiziert und empfahl ihm die vorzeitige Aufnahme in die Akademie, aber nach nur einem halben Tag Unterricht kehrte Alhaitham nach Hause zurück und erzählte ihr, dass ihn die Leute, die er in der Akademie kennengelernt hatte, einen halben Tag lang nur gelangweilt hätten. Er zog es vor, mit seinen Büchern allein zu sein, anstatt nutzlosen Vorlesungen zu lauschen. Seine Großmutter sah in ihm ein ähnliches Talent und einen ähnlichen Charakter wie seine Eltern und stimmte zu, dass er allein zu Hause lernte.

Der Begriff der Selbstausbildung ist in Alhaithams Werdegang verankert: lesen, auseinandernehmen, reorganisieren und anzweifeln. Als Mitglied einer Gelehrtenfamilie hatte er das Glück, Zugang zu gedruckten Büchern zu haben, und bemerkenswert ist, dass er es vorzog, die gedruckte Büchersammlung seiner Großmutter zu lesen, anstatt seine Informationen aus Akasha zu beziehen.

Verglichen mit dem Akasha-System sind gedruckte Bücher unflexibel, gar archaisch, und selbst der Inhalt muss nicht unbedingt korrekt sein. Die Verwendung eines solchen Wissensinstruments ist gleichbedeutend mit dem Kampf gegen die Gefahr falscher Informationen, die die meisten in Sumeru verachten, Alhaitham aber genießt. Er erlernte dadurch die Fähigkeit zu lernen, zu analysieren und sogar zu korrigieren und somit zu zweifeln. Wenn rudimentäres und primitives Lesen ein Ärgernis ist, dann ist es das Ärgernis, das Alhaitham am meisten schätzt.

Seine Großmutter erzählte ihm: „Die Liebe zu den Büchern hast du mit deinem Vater gemein, und ich bin mir nicht sicher, dass Menschen wie du nicht vielleicht zu intelligent sind. Aber etwas Besonderes kann auch immer zu etwas Kostbarem werden, denk daran.“

Erkenne das Wissen, verfolge es, glaube daran und vergiss nie, daran zu zweifeln. Vielleicht lassen sich nur diejenigen, die dazu in der Lage sind, nicht so leicht von etwas wie Wissenskonserven beeindrucken, und nur diejenigen, die diese Bedingung erfüllen, werden das Akasha-Handbuch, das in den Tiefen des Daena-Palastes versiegelt ist, auch nur beiläufig zur Hand nehmen und lesen.

Wie seine Großmutter sagte, gibt es nutzlose Informationen in Büchern, und davon nicht wenige, aber ein kluger Verstand wird sie für Alhaitham auswählen, und wenn es ein Buch gibt, das er gelesen hat und das ihm noch im Gedächtnis geblieben ist, wird es ihm vielleicht eines Tages eine Hilfe sein.

Nach dem Tod seiner Großmutter musste sich Alhaitham allein um ihre Angelegenheiten kümmern und erbte ihren Nachlass sowie die kleine Büchersammlung der Familie. Auf dem Sterbebett wünschte ihm seine Großmutter alles Gute: „Du bist ein überaus intelligenter Junge, ein Genie, das oft egoistisch und eigensinnig ist. Du hast Visionen, die über das Gewöhnliche hinausgehen, das ist nichts Schlechtes, aber du musst aufpassen, dass du besonnener bist als der Gewöhnliche, dass du verstehst, dass alle Eitelkeit nur Staub ist, und dass du deinen Weg mit großer Weisheit und Besonnenheit wählst.“

Alhaithams Antrag auf Aufnahme in die Akademie wurde bald bewilligt, er bestand die Aufnahmeprüfung mit fliegenden Fahnen, und immatrikulierte sich in der Redelehre. Man sagte ihm, seine Großmutter habe beantragt, dass er an anderen Kursen der Akademie teilnehmen könne, und dass er den Unterricht besuchen könne, wenn er Zeit habe. Alhaitham folgte der Anweisung seiner Großmutter und blieb äußerst selbstbewusst, aber dabei zurückhaltend und nüchtern.

Einige Jahre vergingen, und Alhaitham zog in sein neues Zuhause ein und nahm dabei alle Bücher aus seiner Bibliothek mit. Als er sie sortierte, wandte er sich wieder einigen Büchern zu, die er vor langer Zeit gelesen hatte. Die meisten geisteswissenschaftlichen Bücher mit einer Widmung auf dem Deckblatt stammten aus der Sammlung seiner Mutter, während die Bücher mit Informationen im Umschlag und Randbemerkungen im Wesentlichen von seinem Vater stammten. Darunter befand sich auch ein dickes, gebundenes Buch in smaragdfarbenem Einband, auf dessen Titelseite die Handschrift seiner Großmutter zu lesen war: Möge mein Junge Alhaitham ein friedliches Leben führen.

Eine langlebige und robuste Gürteltasche aus grünem Stoff.

Vielleicht liegt es daran, dass die Farbe der Tasche sehr nah an die der Kleidung von Alhaitham herankommt, aber oftmals wird sie fälschlicherweise für einen breiten Gürtel gehalten.

In ihr finden sich folgende Dinge: Schlüssel, ein Buch, das kürzlich gelesen wurde, und ein tragbares Gerät zum Abspielen von Musik, das zu seinen Kopfhörern passt.

Dieses Gerät wurde von Alhaitham handgefertigt, als er zum ersten Mal Archivar wurde, und es ist über ein gleichfarbiges Kopfhörerkabel mit den dazu passenden Kopfhörern verbunden. Manchmal wird es zum Abspielen von Musik verwendet, manchmal nur, um die Umgebungsgeräusche zu reduzieren und den Schall zu dämmen.

„Der Wert der Sprache darf nicht nur auf Wörter reduziert werden. Durch Kohärenz der Sprache steuern die Menschen ihr Denken. Die Sprache ist die Basis, die Regel, die Waffe und die Gewalt. Indem wir die Sprache anders gestalten, haben wir endlich die Möglichkeit, die relative Vollständigkeit des Denkens zu erreichen.

Und während das Beherrschen von Ideen für einige sicherlich bedeutungslos scheint, ist sie für die große Mehrheit der Menschen doch ungemein wichtig. Die Unterschiede in unseren individuellen Bestrebungen machen es erforderlich, dass wir unterschiedliche Sprachen beherrschen und unterschiedliche Medien einsetzen. Nicht selten ist es also die Sprache, die die Menschen kontrolliert.“

Alhaitham blätterte die Seite um, auf der diese Worte gedruckt waren. Das Buch war am Ende, und dann der Rückumschlag. Er erkannte eine leuchtende, zarte Verzierung, die unter dem Buch eingepresst war.

Natürlich wusste er, was es war – das Göttliche Auge, ein Beweis der Macht. Aber für ihn hatte es keine so erhabene Bedeutung.

Das Wunder ist allerdings erhabener, wenn es dem Gläubigen widerfährt; für ihn ist es hingegen nur ein einigermaßen nützliches Hilfsmittel.

In dem Moment, in dem Alhaitham das Göttliche Auge erhielt, befand er sich gerade auf einer Forschungsreise.

Er hatte nicht vor, zu viel Zeit mit der Untersuchung des Göttlichen Auges zu verschwenden. Da es etwas ist, das ihm gehört, bleibt es immer dasselbe, egal wann er es sich ansah.

Wie das bereits erlernte Wissen kann auch das, was er erst einmal in den Händen hält, nicht mehr entkommen.